Nicht morgen, nicht gestern by Uwe Timm

Nicht morgen, nicht gestern by Uwe Timm

Autor:Uwe Timm [Timm, Uwe]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-462-30879-2
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch Verlag
veröffentlicht: 2015-01-07T23:00:00+00:00


Der Mantel

Sie stieg die Treppe hoch. Dort, wo die Stufen zur Wand hin breiter wurden, in der Ecke des Treppenhauses, blieb sie einen Moment stehen, wartete, bis sie wieder Luft bekam. Ihre Knie zitterten ein wenig, und sie dachte, das ist der Schreck, der sitzt mir in den Gliedern. Noch immer. Sie stieg dann weiter, hielt sich mit der linken Hand am Geländer fest. Die meisten Messingleisten an der Stufenkante waren abgerissen, das Linoleum ausgefranst und mit grauem Mörtelstaub bedeckt. Das Geländer im ersten Stock wackelte. An die Wände waren riesige Strichmännchen gemalt und in einer breiten geschwungenen Schrift Abkürzungen und Namen, die ihr nichts sagten. Als sie vor sechsundzwanzig Jahren in das Haus eingezogen war, wohnte unten noch ein Hausmeister, der jeden Tag fegte und jeden zweiten wischte. Jetzt kamen einmal in der Woche zwei Afrikaner, die das Treppenhaus durchfeudelten.

Sie hörte Schritte von oben kommen und blieb stehen, versuchte ruhig zu atmen, auch das Zittern der Hand zu verbergen. Ein junger Mann kam ihr entgegen, auf der Schulter trug er ein rotes Fahrrad. Er nickte ihr kurz zu. Sie sagte: Guten Tag. Dann drehte sie sich mit dem Rücken zur Wand, so als mache sie ihm mit seinem Rad Platz, tatsächlich aber sollte er ihren Rücken nicht sehen. Ich hätte mir nicht den Mantel anziehen sollen, dachte sie. Es war ein Fehler. Ich hätte den braunen Stoffmantel anziehen sollen. Der war schon recht abgetragen, der Stoff an den Ärmeln blank gewetzt, und hin und wieder musste sie an den Ärmelkanten mit der Nagelschere die ausgefransten Fäden abschneiden. Und er hielt nicht richtig warm. Warm, wirklich warm, war der andere Mantel, ihr, wie sie es nannte, bestes Stück, ein Nutriamantel. Es war über Nacht kalt geworden, und sie hatte morgens in der Wohnung gefroren. Die Heizung drehte sie erst am Abend auf, kurz vor dem Abendessen, für drei Stunden. Sie hatte sich in den letzten beiden Jahren immer wieder überlegt, ob sie den Mantel nicht verkaufen sollte. Einmal war sie denn auch zu dem Pelzgeschäft in der Osterstraße gegangen, dem letzten Pelzgeschäft im Viertel. Früher hatte es hier vier, nein, sogar fünf Geschäfte gegeben. Jetzt nur noch dieses eine. Und in dem Schaufenster lagen meist nur Lederwaren, kaum noch Pelzmäntel.

Sie hatte den Mantel sorgfältig durchgesehen, zwei Nähte im Futter nachgenäht und ihn über dem Arm in das Pelzgeschäft getragen und auf den Ladentisch gelegt. Der Kürschner sah sich den Mantel an, das Fell, das Seidenfutter.

Gute Arbeit, sagte er.

Ja, sagte sie, und so gut wie neu. Hab ihn nur selten getragen.

Das sieht man.

Er dachte einen Moment nach und nannte dann die Summe. Sie glaubte zunächst, sie hätte nicht richtig gehört, aber er wiederholte sie noch mal. 650 Mark. Er muss die Enttäuschung in ihrem Gesicht gesehen haben, er sagte, tut mir leid, mehr ist nicht drin. Wirklich nicht. Behalten Sie ihn lieber. Niemand will mehr einen Pelzmantel tragen. Schon gar nicht einen teuren. Nerz oder Nutria. Nein. Das Geschäft ist tot.

Sie stand da, überlegte, dachte an die Rechnung für das neue



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.